Bismarck 1865.
Kaiser Napoleon III
Königin Augusta
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Freiburgs Geschichte in Zitaten |
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Das zweite Reich oder wie
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Eine zu Grunde gerichtete Militärmonarchie oder eine Caricatur derselben?
Frankreich war seit den Revolutionstagen 1848 nicht zur Ruhe gekommen. Die Bourgeoisie sehnt sich nach einem starken Mann. Bei der Präsidentenwahl kandidieren Cavaignac, Ledru-Rollin und Louis Napoleon. Cavaignac war das Schoßkind der Bourgeoisie als Sieger im Juniaufstand, Ledru-Rollin war der Erkorene aller Demokraten und Sozialisten, Louis Napoleon wurde von den Bonapartisten, allen Reaktionären und von vielen Kommunisten unterstützt. Seine Emissäre waren die rührigsten und geschicktesten, sie versprachen am meisten, den Bauern wurde Steuernachlaß, den Soldaten Krieg, dem Gewerbestand Arbeit genug versprochen. Die große Masse des französischen Volkes, nichts weniger als republikanisch gesinnt, fiel Louis Napoleon zu [Mögl09].
Der gewählte Staatspräsident jedoch will mehr. Während der Rundreise durch die Provinzen hatte sich Louis Napoleon vollkommen überzeugt, daß der Annahme der Kaiserwürde keine Bedenken mehr im Wege stünden, u. am 7. November nahm der Senat einstimmig folgende auf die Wiederherstellung des Kaiserreichs bezügliche Artikel an: Die kaiserliche Würde ist wieder hergestellt; Ludwig Napoleon Bonaparte ist Kaiser unter dem Namen Napoleon III. Am 21. u. 22. Novbr. ergaben sich bei der Abstimmung 7,839,552 bejahende u. 254,501 verneinende Stimmen für die Retablirung des Kaiserreichs in der Person Ludwig Napoleons. Der Gesetzgebungskörper gab ohne Weiteres seine Zustimmung. So wurde denn am 2. Decbr. 1852 das Kaiserreich unter Napoleon III. proclamirt [Pier57]. Um an den Ruhm seines Onkels anzuknüpfen, führt der Kaiser den Jahrestag des Heiligen Napoleon (15. August) als französischen Nationalfeiertag wieder ein [Bell12].
Kaiser Napoleon III, Kaiserin Eugène und der Kronprinz zu Pferde In den folgenden Jahren entwickelt sich Louis Napoleon nach der alten Größe Frankreichs strebend, die es unter seinem Onkel einst hatte, zu Europas Unruhestifter. Vorausschauend lesen wir im Herderschen Lexikon von 1857: Von dem Erfolge seiner auswärtigen Politik hängt es ab, ob das 2. franz. Kaiserthum in der Geschichte als die glückliche Wiederherstellung der von Napoleon I. gegründeten und wieder zu Grunde gerichteten Militärmonarchie oder als eine Caricatur derselben aufgezeichnet sein wird, als was die 2. franz. Republik in ihrer Vergleichung mit der 1. bereits erscheint [Herd57].
Karl Marx bescheinigt dem Kaiser eine groteske Mittelmäßigkeit, die Baudelaire noch präzisiert: La grande gloire de Napoléon III aura été de prouver que le premier venu peut, en s'emparent du télégraphe et de l'Imprimerie nationale, gouverner une grande nation* [Robb12]. Die Medien halt, damals schon. *Der große Ruhm Napoleon III. wird sein, bewiesen zu haben, dass der Erstbeste eine große Nation beherrschen kann, indem er sich des Telegraphen und der Nationaldruckerei bemächtigt
Karikatur aus dem Kladderadatsch von 1869
Ja, das sollte reichen …
Vor allem Preußens Stellung in Europa ist Louis Napoleon ein Dorn im Auge, und Bismarck provoziert den Kaiser, als er 1870 für die vakante spanische Thronfolge den katholischen Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen, Leopold, vorschlägt. Frankreich fühlt sich von Preußen eingekreist, protestiert und Preußens König Wilhelm lenkt ein.
Zeitgenössische Darstellung
Doch das ist Napoleon jetzt nicht mehr genug. Am 12. Juli 1870 stellte der französische Botschafter in Preußen Vincent Graf Benedetti in Bad Ems die Forderung an den preußischen König, er solle dem Prinzen von Hohenzollern die Annahme der spanischen Krone verbieten, und richtete auf Befehl seiner Regierung nach dem Verzicht des Prinzen das Verlangen an den König, er möge die bestimmte Versicherung erteilen, daß auch in Zukunft die Frage der hohenzollerischen Thronkandidatur nicht wieder aufgenommen werden solle [Meye06].
Bismarck, der sich des Wohlwollens seines greisen Monarchen nie ganz sicher ist, hatte in der Nähe des Königs seinen engsten Mitarbeiter Heinrich Abeken postiert, der ihm nun in einem Telegramm den Sachverhalt aus der Sicht Wilhelms mitteilt:
„Graf Benedetti fing mich auf der Promenade ab, um auf zuletzt sehr zudringliche Art von mir zu verlangen, ich sollte ihn autorisiren, sofort zu telegraphiren, dass ich für alle Zukunft mich verpflichtete, niemals wieder meine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Candidatur zurückkämen. Ich wies ihn zuletzt, etwas ernst, zurück, da man à tout jamais dergleichen Engagements nicht nehmen dürfe noch könne. Natürlich sagte ich ihm, dass ich noch nichts erhalten hätte* und da er über Paris und Madrid früher benachrichtigt sei als ich, er wohl einsähe, dass mein Gouvernement wiederum außer Spiel sei.“ *Eine Nachricht des Prinzen Leopold
„Seine Majestät hat seitdem ein Schreiben des Fürsten bekommen. Da Seine Majestät dem Grafen Benedetti gesagt, dass er Nachricht vom Fürsten erwarte, hat Allerhöchstderselbe … beschlossen, den Grafen Benedetti nicht mehr zu empfangen, sondern ihm nur durch einen Adjutanten sagen zu lassen: dass Seine Majestät jetzt vom Fürsten die Bestätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris schon gehabt, und dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe. Seine Majestät stellt Eurer Excellenz* anheim, ob nicht die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweisung sogleich, sowohl unsern Gesandten, als in der Presse mitgeteilt werden sollte.“ *Bismarck
Diese Emser Depesche erreicht Bismarck in Berlin bei einem Diner mit den preußischen Generalen Albrecht von Roon und Helmuth von Moltke. Sofort macht er sich an die Redaktion des Telegramms und legt den Herren eine von ihm verkürzte und verschärfte Fassung desTelegramms vor. Er fragt sie, ob man auf dieser Grundlage einen Krieg beginnen könne. Ja, antworteten sie, das sollte reichen [Till14].
Darauf schickt Bismarck seinen redigierten Text an die Presse: „Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der Kaiserlich Französischen Regierung von der Königlich Spanischen amtlich mitgeteilt worden sind, hat der Französische Botschafter in Ems an S. Maj. den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisieren, dass er nach Paris telegraphiere, dass S. Maj. der König sich für alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur wieder zurückkommen sollten.
Seine Maj. der König hat es darauf abgelehnt, den Franz. Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, dass S. Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzuteilen habe.“
Die Veröffentlichung der Emser Depesche durch Bismarck gaben der französischen Regierung am 19. Juli 1870 den Vorwand zur Kriegserklärung [Meye06].
Neben der Empörung in Preußen über den Ton in der von Bismarck gezielt angeschärften Fassung des Telegramms gewinnt der Kanzler auch das Wohlwollen des Auslands, indem er am 25. Juli der Times den Entwurf eines Bündnisses, das Frankreich Preußen seit 1867 wiederholt angetragen, dieses aber abgelehnt hatte, [zuspielt]. Danach sollte Frankreich Luxemburg und Belgien, Preußen die Herrschaft über Deutschland erhalten. Die öffentliche Meinung Europas war damit gegen Napoleon gewonnen, denn seine Eroberungslust war jetzt öffentlich enthüllt, er war auch moralisch der Angreifer auf den Frieden Europas [Meye06]. Flugblatt der Berliner Kreuzzeitung: Frankreich hat an Preußen den Krieg erklärt, mit handschrift-lichem Zusatz: wird ihn aber verlieren das feige, heimtückische Volk der Franzosen [Kata02]
Der gegenseitige Hass der Erbfeinde entlädt sich im deutschen Einigungskrieg von 1870/71 mit einem Ergebnis ganz im Sinne Bismarcks, der schon 1862 festgestellt hatte: Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut [Miro02].
©T-Online
Der Herr hat Großes an uns gethan
Der Kaiser und sein Heer gefangen (©Ullstein) Nach Scharmützeln und Belagerungen wird Marschall Mac Mahon bei Sedan 1. Sept. zur Schlacht gezwungen. Die Franzosen wurden hier völlig umzingelt und mußten 2. Sept. kapitulieren; außer den 21,000 in der Schlacht gefangenen gerieten 83,000 Franzosen, darunter 2866 Offiziere, der Châlons-Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft [Mey06].
Am 3. September 1870 veröffentlicht der Polizeipräsident
von Berlin Wurmb die 39ste Depeche vom Kriegs=Schauplatz vor Sedan
(Dokument aus dem Deutschen Historischen Museum Berlin), in der
König Wilhelm seiner * Jeu de mots?
Am nächsten Tag beim Siegesmahl in Vendresse bringt Preußens Wilhelm folgenden Trinkspruch aus: Wir müssen heut aus Dankbarkeit auf das Wohl meiner braven Armee trinken. Sie, Kriegsminister von Roon, haben unser Schwert geschärft; Sie General von Moltke, haben es geleitet; und Sie Graf von Bismarck, haben seit Jahren durch die Leitung der Politik Preußen auf seinen jetzigen Höhepunkt gebracht. Lassen Sie uns also auf das Wohl der Armee, der drei von mir Genannten und jedes einzelnen unter den Anwesenden trinken, der nach seinen Kräften zu den bisherigen Erfolgen beigetragen hat [Jahn90].
Da mag Emanuel Geibel nur noch jubeln:
Nun laßt die Glocken von Turm zu Turm
Ab nach Kassel
Napoléon III a été défait, wie einer seiner Außenminister formuliert, par l’immensité de ses désirs et la limitations de ses capacités. Et si la destinée provoque sa chute, c’est seulement parce qu'il y croyait* [Robb12]. *Napoleon III. wurde durch die Unermesslichkeit seiner Begierden und die Grenzen seiner Fähigkeiten geschlagen. Und wenn die Vorsehung seinen Sturz provoziert, geschieht dies nur deshalb, weil er daran glaubte.
Napoleon III., schon seit 1. Sept. König Wilhelms Kriegsgefangener, erhielt Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel als Aufenthaltsort angewiesen [Meye06].
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Der Kaiserbrief
Im Vorfeld des historischen Aktes der Reichsgründung geht es wenig harmonisch zu. Graf Bismarck hat alle Mühe, die deutschen Reichsfürsten unter die preußische Pickelhaube zu bringen, denn so sieht das österreichische Satireblatt Kikeriki Deutschlands Zukunft: Kommt es unter einen Hut? Ich glaube, ’s kommt eher unter eine Pickelhaube.
Über die Pickelhaube hatte Heine bereits 1844 gelästert:
Ja, ja der Helm gefällt mir, er zeugt
Vor allem soll und muss die Reichsgründung rasch gehen, denn die Euphorie des Sieges über den Erzfeind darf nicht verfliegen, und da spielt der bayrische König bei der Gründung des Deutschen Reiches die entscheidende Rolle, denn er ist der primus inter pares der deutschen Fürsten. Ludwig II. hatte für die Einheit der deutschen Stämme immer eine Großdeutsche Lösung unter Einschluss Österreichs befürwortet. Zudem hatte Bayern nach dem Krieg von 1866, den es an der Seite Österreich verloren hatte, Preußen 60 Millionen Goldgulden Reparationszahlungen leisten müssen.
Es kommt also alles darauf an, den Kini für eine deutsche Einigung unter der Führung Preußens zu gewinnen. Ludwig hatte die bayrischen Staatsfinanzen zerrüttet und privat versucht, Geld von allen möglichen Seiten zu erhalten, wie etwa ein Darlehen über 20 Millionen Gulden vom Fürsten von Thurn und Taxis. Auch heißt es, er hätte den österreichischen Kaiser, die Könige von Belgien und Schweden, sogar den (türkischen) Sultan und den Schah von Persien um Geld gebeten.
So weiß Bismarck, wie er Ludwig II. ins Boot locken kann, mit Geld, mit viel Geld, das der privat hochverschuldete Märchenkönig ohne Kontrolle durch das bayerische Parlament für seine Bauten ausgeben kann.
So schickt der Kanzler Botschafter Holnstein nach München mit einem Schreiben, das er selbst entworfen hatte, mit der Bitte, Ludwig möge den Text übernehmen und unterschreiben. Als Lockmittel bietet Bismarck dem Kini 6 Millionen Goldgulden zur privaten Verwendung an. Dieses Geld stammt aus dem Ertrag des sogenannten Reptilienfonds, dem ehemaligen Staatsschatz des Königreichs Hannover, das sich Preußen 1866 einverleibt hatte mit der Maßgabe, dieses Geld treuhänderisch zu verwalten. *In Jahre 1892 wird das Welfenvermögen zurückgegeben.
Vom Golde geblendet, schreibt Ludwig wie ein Schüler Bismarcks Text mit kleinen unbedeutenden Änderungen ab. Da heißt es im Kaiserbrief dann im Schlussteil:
Ich habe mich daher an die deutschen Fürsten mit dem Vorschlage gewendet, gemeinschaftlich mit mir bei Ew. Majestät in Anregung zu bringen, daß die Ausübung der Präsidialrechte des Bundes mit Führung des Titels eines deutschen Kaisers verbunden werde. Sobald mir Ew. Majestät und die verbündeten Fürsten Ihre Willensmeinung kundgegeben haben, werde ich meine Regierung beauftragen, das Weitere zur Erzielung der entsprechenden Vereinbarungen einzuleiten.
Mit der Versicherung der vollkommensten Hochachtung und Freundschaft verbleibe ich
Euer königlichen Majestät Hohenschwangau, d. 30. Nov. 1870
Morgen ist der unglücklichste Tag meines Lebens
So erhält der nun schon recht betagte preußische König die Kaiserkrone, wie einst von seinem Bruder gewünscht, nicht aus Volkeshand, sondern aus der Hand der versammelten Fürsten. Doch an seine Frau Augusta schreibt er: Den preußischen Namen in den Hintergrund treten zu lassen, ist mein halbes Grab [Andr11] und noch am Vorabend seiner Proklamation jammert Wilhelm und bricht im Beisein des Thronfolgers Friedrich und Bismarcks in Tränen aus Morgen ist der unglücklichste Tag meines Lebens, da tragen wir das preußische Königtum zu Grabe [Wieg07a].
Dabei ist der 18. Januar symbolhaft, hatte sich doch sein Vorfahr Friedrich 1701 selbst vor genau 170 Jahren in Königsberg außerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reiches zum König in und nicht von Preußen gekrönt. Nun ist Großherzog Friedrich I. von Baden, der bei der Proklamation seines Schwiegervaters das Kaiserhoch auszubringen hatte, in ähnlichen Formulierungsschwierigkeiten. Sowohl Deutscher Kaiser als auch das schwerfällige Kaiser von Deutschland würde so manchem süddeutschen Fürsten von Gottes Gnaden sauer aufstoßen. Doch Friedrich hat eine rettende Idee.
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Kronprinz
An das Deutsche Volk
Großherzog Friedrich
Der alte Kaiser Wilhelm von Paul Bülow
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Versailles, deutscher Schicksalsort in Frankreich
Die Niederlage Napoleons III. wird gekrönt durch die den französischen Nationalstolz provozierende Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Versailler Schlosses. Der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm und spätere 99-Tage-Kaiser Friedrich III. (im Bild oben ganz links hinter seinem Vater) erinnert sich: Ich ließ meine Blicke ... über die Versammlung und an der Decke schleifen, wo Ludwigs XIV. Selbstverherrlichungen, riesige in Allegorien ...
Deckengemälde im Versailler Spiegelsaal: Passage du Rhin en présence des ennemis. Der Kronprinz wie auch spätere Betrachter fehlinterpretieren hier den Inhalt der Bilder als Spitze gegen Deutschland, doch beschreiben die Gemälde einzig den Triumph Louis' XIV im Holländischen Krieg von 1792.
... und erläuternden, prahlenden Inschriften abgebildet waren, namentlich die Spaltung Deutschlands zum Gegenstand habend, und fragte mich mehr als einmal, ob es denn wirklich wahr sei, dass wir uns in Versailles befänden, um hier die Wiederherstellung des deutschen Kaisertums zu erleben - so traumartig wollte mir das Ganze erscheinen ... Nachdem Se. Majestät eine kurze Ansprache an die deutschen Souveräne laut und in der wohlbekannten Weise verlesen hatte, trat Graf Bismarck, der ganz grimmig verstimmt aussah, vor und verlas in tonloser, ja geschäftlicher Art und ohne jegliche Spur von Wärme oder feierlicher Stimmung die Ansprache:
An das Deutsche Volk!Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preussen, nachdem die Deutschen Fürsten und Freien Städte den einmüthigen Ruf an Uns gerichtet haben, mit Herstellung des Deutsche Reiches die seit mehr denn 60 Jahren ruhende Deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen, und nachdem in der Verfassung des Deutschen Bundes die entsprechenden Bestimmungen vorgesehen sind, bekunden hiermit, daß Wir es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben, diesem Rufe der verbündeten Deutschen Fürsten und Städte Folge zu leisten und die Deutsche Kaiserwürde anzunehmen. Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der Krone Preußen fortan den Kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen, und hoffen zu Gott, daß es der Deutschen Nation gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir übernehmen die Kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in Deutscher Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu vertheidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem Deutschen Volke vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermüthigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung. Gegeben Hauptquartier Versailles, den 17. Januar 1871. Wilhelm
Der Kronprinz fährt in seiner Schilderung fort: Bei den Worten Mehrer des Reiches bemerkte ich eine zuckende Bewegung in der ganzen Versammlung*, die sonst lautlos blieb. Nun trat der Großherzog von Baden mit der ihm so eigenen, natürlichen, ruhigen Würde vor und rief laut mit erhobener Rechten (neben Wilhelm): Es lebe seine Kaiserliche Majestät, der Kaiser Wilhelm! Ein donnerndes, sich mindestens sechsmal wiederholendes Hurra durchbebte den Raum, während Fahnen und Standarten über dem Haupte des neuen Kaisers wehten und Heil dir im Siegerkranz ertönte. [Lese89]. *Die mittelalterliche sich auf kaiserlichen Dokumenten der Epoche findende Formel allzeit Mehrer des Reiches erregte die Versammlung
Paul von Hindenburg wohnt der Veranstaltung als junger Leutnant teil und schreibt in seinen Erinnerungen: Die Feier am 18. ist genugsam bekannt. Sie war für mich reich an Eindrücken. Am erhebendsten und zugleich ergreifendsten wirkte selbstredend die Person meines Allergnädigsten Königs und Herrn. Seine ruhige, schlichte, alles beherrschende Würde gab der Feier eine größere Weihe als aller äußere Glanz. Die herzenswarme Begeisterung für den erhabenen Herrscher war aber auch bei allen Teilnehmern, welchem deutschen Volksstamme sie auch angehörten, gleich groß. Die Freude über das „Deutsche Reich“ brachten wohl unsere süddeutschen Brüder am lebhafteren zum Ausdruck. Wir Preußen waren darin zurückhaltender, aus historischen Gründen, die uns unsern eigenen Wert zu einer Zeit schon hatten erkennen lassen, in der Deutschland nur ein geographischer Begriff war. Das sollte fortan anders werden! [Hind20] und lässt mit der letzten Bemerkung ein wenig von der unseligen preußischen Arroganz durchblicken.
Der Maler der Kaiserproklamation* Anton von Werner sieht den historischen Akt ein wenig nüchterner als der Kronprinz und Hindenburg: Und nun ging in prunklosester Weise und außerordentlicher Kürze das große historische Ereignis vor sich, das die Errungenschaft des Krieges bedeutete: die Proklamierung des Deutschen Kaiserreichs! ... Der Vorgang war gewiß historisch würdig, und ich wandte ihm meine gespannteste Aufmerksamkeit zu, zunächst natürlich seiner äußeren malerischen Erscheinung, notierte in aller Eile das Nötigste, sah, daß König Wilhelm etwas sprach und daß Graf Bismarck mit hölzerner Stimme etwas vorlas, hörte aber nicht, was es bedeutete, und erwachte aus meiner Vertiefung erst, als der Großherzog von Baden neben König Wilhelm trat und mit lauter Stimme in den Saal hineinrief: Seine Majestät, Kaiser Wilhelm der Siegreiche, Er lebe hoch! Ein dreimaliges Donnergetöse unter dem Geklirr der Waffen antwortete darauf, ich schrie mit und konnte natürlich dabei nicht zeichnen; von unten her antwortete wie ein Echo sich fortpflanzend das Hurra der aufgestellten Truppen. Der historische Akt war vorbei: es gab wieder ein Deutsches Reich und einen Deutschen Kaiser! [Bart93]. *von von Werners Kaiserproklamation gab es vier Versionen, einzig die Friedrichsruher Kopie oben blieb erhalten
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Heinrich von Treitschke
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Ein Volkskrieg wütet weiter
Napoleon III. ist Geschichte als am 4. September in Paris die Dritte Republik ausgerufen wird. Die neue Regierung unter General Louis Jules Trochu, Léon Gambetta und Jules Favre denkt nicht an Kapitulation, denn Frankreich verfügt noch über zwei Millionen wehrfähige Männer und erhebliche Reserven an Waffen und Munition.
In Paris dringt die radikale Fraktion um den zum Innenminister ernannten Gambetta darauf, die Kämpfe als Volkskrieg mit größter Entschlossenheit fortzuführen. Man verwandelt Paris in eine Festung, ist bereit die eigene Stadt einzuäschern. Zugleich versucht Gambetta die deutschen Truppen in einen Partisanenkrieg zu verwickeln.
Die Alliierten schließen Paris ein und mit zunehmendem Hunger setzen sich liberale und moderate Kräfte um Jules Favre durch, der am 28. Januar 1871 einen Waffenstillstand unterzeichnet.
Und hör den Kaiserjubel ick …
Der Dichter Ferdinand Freiligrath, der für das Scheitern der 48er Revolution noch das Bürgertum verantwortlich gemacht hatte, jubelt nun altersweise und konservativ:
Ich kann am Weg nur stehen,
Für die Mehrheit der Deutschen geht mit der Reichsgründung ein Traum in Erfüllung. Die Frau des württembergischen Gesandten in Berlin Baronin von Spitzemberg bedenkt nicht, dass ihr Mann möglicherweise seinen Job verliert, als sie schreibt: Jedes deutsche Herz hatte das erhofft, keines geahnt, daß seine Träume sich in dieser Weise so bald und so herrlich erfüllen würden. Glücklich sind wir, daß wir nicht nur den Stern der deutschen Größe und Herrlichkeit aufgehen sahen, sondern daß wir noch jung genug sind, um uns unter seinen Strahlen zu wärmen, um die ... Früchte zu genießen, die aus dieser unter Blut und Thränen gesäten Saat hervorgehen. Möge Gott den Geist meines Volkes also lenken, daß seine Entwicklung eine friedliche und zivilisatorische bleibe, sein Reich ein Reich des Lichts, der Freiheit, der wahren christlichen Gesittung sei [Fisc06].
Hoch zu Ross vor der alten Kaiserpfalz in Goslar: Wilhelm der Große. Dieses Ehrenprädikat hat sich nicht durchgesetzt
In den unteren Klassen jedoch gibt es auch kritische Äußerungen, wie die des Landwehrmanns Kutschke: Und hör den Kaiserjubel ick von Junker, Pfaff und Zofe, dann denk ick halt janz still bei mich: wat ick mir davor koofe! [Fisc06]. Gerhart Hauptmann findet unter den Webern in Schlesien: Die deutsche Einheit, der Taumel des Erfolgs … hatte hier nur stille Wut und dumpf entschlossenen Haß ausgelöst. Bismarck, Moltke und Kaiser täten für die armen Leute nichts; der Reichstag bestehe aus einem Haufen Betrügern und Nichtstuern [Fisc06].
Restons pur de la souillure germanique
Bei den Friedensverhandlungen mit Frankreich in Frankfurt widersetzt sich Bismarck anfänglich der Annexion Elsass-Lothringens als Reichsland, da eine Abtretung die Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland nur vertiefen muss. Allerdings kann er sich mit seiner Realpolitik bei den siegestaumelnden Landsleuten nicht durchsetzen und erklärt gegenüber den französischen Bevollmächtigten bei den Friedensverhandlungen Jules Favre und Adolphe Thiers: Verlangen Sie nichts Unmögliches von mir. In Deutschland behauptet man schon, ich verlöre die Schlachten, die Moltke gewonnen hat [Fisc06].
Für die Linke hatte das Reich den Krieg nicht gegen Napoleon III., sondern gegen das französische Volk geführt. August Bebel sieht den Keim eines neuen Krieges in der geplanten Annexion Elsass-Lothringens. Im Parlament des Norddeutschen Bundes warnt die Linke in der Person August Bebels vor der Annexion des Elsass, weil es die Klugheit gebiete, daß wir unseren Gegner nicht unnützerweise verletzen und zur Rache anstacheln. Es sei außerdem bekannt, daß die Elsässer zum überwiegenden Teil Franzosen bleiben möchten, und wenn wir heute ihr Selbstbestimmungsrecht mit Füßen treten … dann müssen wir es uns ebenso gut gefallen lassen, wenn andere, wo die Gelegenheit sich bietet, auch Stücke unseres Landes nehmen. Der Parlamentsstenograph notiert: Allgemeine Mißbilligung, Zischen, Ruf: Pfui! Hinaus! Hinaus mit ihm! [Fisc06].
Karl Liebknecht beschuldigt das Haus Hohenzollern, eine echte demokratische Einheit Deutschlands zu verhindern. Da das Symbol der neuen Macht die Polizei sei, solle man den Kaiser doch gleich auf dem Berliner Gendarmenmarkt krönen. Wenige Tage später verhaften Gendarmen Bebel und Liebknecht, die anschließend wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu mehreren Jahren Festungshaft verurteilt werden [Trau11].
Der Frankfurter Frieden beinhaltet die Abtretung Elass-Lothringens als Reichsland an Deutschland. Da mahnt La Ligue’Alsace: Optez Alsaciens et Lorrains; restons pur de la souillure germanique* und gibt bei insgesamt 1,54 Millionen Elsass-Lothringern eine Zahl von 800 000 Emigranten an. Schließlich aber nehmen nur 50 000 Bürger das ihnen bis zum Oktober 1872 eingeräumte Optionsrecht wahr und entscheiden sich als französische Staatsbürger für die Übersiedlung ins Mutterland [Witt02]. *Elsass-Lothringer optiert; halten wir uns gegenüber der germanischen Besudelung rein
Pensez-y toujours, n'en parlez jamais!
Immer daran denken, nie davon sprechen! diese Parole gibt der französische Politiker Léon Gambetta 1872 in Bezug auf die verlorenen Gebiete Elsass und Lothringen aus. Doch die Medien halten sich nicht daran, sondern stellen die harte deutsche Besatzung an den Pranger, oder machen sie lächerlich wie Oncle Hansi und begrüßen den einhelligen Patriotismus der besetzten Bevölkerung. Toute autre attitude, dans la France de l'interieur, était taxée de trahison et vouée aux gémonies. Pourtant, de l'autre cote de la nouvelle frontière parvenait peu a peu un écho discordant: ils ne sont pas si mal, ces gouvernants qui parlent notre langue, nous laissent une large autonomie, introduisent des lois sociales très avancées pour l'epoque et favorisent le développement économique* [Thei12]. *Jede andere Haltung wurde in Frankreich als Verrat angesehen und öffentlich angeprangert. Und doch klang von der anderen Seite der neuen Grenze nach und nach ein widersprüchliches Echo zurück: Die sind gar nicht so schlecht die neuen Herren, die unsere Sprache sprechen, uns eine weitgehende Autonomie gewähren, eine Sozialgesetzgebung einführen, die ihrer Zeit weit voraus ist, und die die wirtschaftliche Entwicklung voranbringen.
Lothringen und Elsass als personifizierte Opfer der Preußen (Bild aus Epinal)
Im Grunde haben die Elsass-Lothringer keine Eigenständigkeit, da Reichsbehörden das Gebiet bis 1911 quasi wie eine Kolonie verwalten, doch le Statut d'autonomie accordé à l'Alsace en 1911 avait été accueilli favorablement dans tout le pays qui, depuis 1870, avait fait un formidable bond en avant à travers les avancées sociales, les progrès de l'industrialisation, la modernisation des réseaux et la valorisation de l'Elsässertum. Pour la première fois depuis l’annexion de l'Alsace à la France, la langue du peuple redevenait à nouveau la langue officielle. D'ailleurs, aux élections du Landtag, en octobre 1911, le « parti français » ne recueillit que 3,2% des suffrages !... la France n'était alors plus qu'un souvenir. Seule une petite fraction des notables et de la haute bourgeoisie francisée, orphelins des préfets et du pouvoir français qui leur avaient assure autrefois une hégémonie sur le peuple, cultivaient avec une certaine hystérie la nostalgie de la France* [Witt02]. *Das 1911 dem Elsass zugestandene Autonomiestatut traf auf breite Zustimmung im ganzen Land, welches seit 1870 durch positive Entwicklungen auf sozialem Gebiet, Fortschritte in der Industrialisierung, Modernisierung der Transportwege und Aufwertung des Elsässertums einen außerordentlichen Sprung nach vorn gemacht hatte. Zum ersten Mal seit der Annexion des Elsass durch Frankreich wurde die Volkssprache wieder zur offiziellen Sprache. Übrigens erzielte im Jahre 1911 bei der Wahl zum Landtag die französische Partei nur 3,2% der Stimmen! Frankreich war also nur noch Erinnerung. Nur eine kleine Minderheit von Honoratioren und der höheren französisierten Bourgeoisie kultivierte als Waisen der Präfekten und der französischen Herrschaft, die ihnen einst die Hegemonie über das Volk gesichert hatten, mit einer gewissen Hysterie das Heimweh nach Frankreich.
Schwarz-weiß-rot oder bleu-blanc-rouge
Die friedliche Entwicklung des Elsass im Wirtschaftsaufschwung des Reiches stört besserwisserische, arrogante Preußen wie den Geschichtsschreiber Heinrich von Treitschke: Diese Lande sind unser nach dem Recht des Schwertes, und wir wollen über sie verfügen kraft eines höheren Rechtes der deutschen Nation, die ihrenverlorenen Söhnen nicht gestatten kann, sich für immer dem Reiche zu entfremden. Wir Deutsche, die wir Deutschland und Frankreich kennen, wir wissen besser, was den Elsässern frommt, als jene Unglücklichen selber, die in der Verbildung ihres französischen Lebens von dem neuen Deutschland ohne Kunde blieben. Wir wollen ihnen wider ihren Willen ihr eigenes Selbst zurückgeben … Wir berufen uns wider den mißgeleiteten Willen, derer die da leben, auf den Willen derer, die da waren [Hart02]. Der Widerwille der Elsässer äußert sich etwa so, dass zwischen 1871 und 1895 60 000 junge Männer nach Frankreich auswandern, um dem preußischen Militärdienst zu entgehen [Miro02].
In der Schule den Elsässern wider ihren Willen ihr eigenes Selbst
zurückgeben: |
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In den neudeutschen Gebieten darf statt der Trikolore nur noch schwarz-weiß-rot gehisst werden, aber manchmal sieht man auch bleu-blanc-rouge, wie das folgende Gemälde dreier kecker Elsässerinnen zeigt, die unter den Augen der preußischen Obrigkeit stolz in ihren langen Kleidern promenieren.
Wie von Bismarck erwartet und von Bebel befürchtet heißt es in Frankreich nun nicht mehr Rache für Sadova (Königgrätz), sondern Revanche für Sedan: Eines Tages wird Frankreich sich als unbesiegbar erheben. Es wird Lothringen, das Elsaß, den Rhein – Mainz und Köln wiedernehmen, tönt der greise Victor Hugo [Fisc06].
Der Sieger bittet am 10. Mai 1871 im Friedensvertrag den Besiegten kräftig zur Kasse. Die Kriegskostenentschädigung Frankreichs an das Deutsche Reich betrug 5 Milliarden Frank, die 1870–73 in Teilbeträgen gezahlt wurden [Meye06]. Frankreich ist ein schneller Zahler. So kann nun endlich der Dom zu Köln vollendet werden. Seinen protestantischen Mitbürgern stiftet Wilhelm in einer Mischung aus neuer Renaissance und neuem Barock eine Domkirche in Berlin.
Im Jahre 1880 Deutschlands ganze Pracht und Macht im hillije Köln
Kronprinz Friedrich Wilhelm: Hoffnung auf eine Liberalisierung Preußens?
Anton von Werner malte nicht nur die Kaiserproklamation, sondern porträtiert auch das tout Berlin im Zweiten Reich. Links eine Gesprächsrunde beim Hofball im Weißen Saal des Berliner Stadtschlosses. Unbestrittener Star der Berliner Gesellschaft ist der stattliche Kronprinz Friedrich Wilhelm (auf dem Bild in weißer Kürassieruniform), auf dem alle Hoffnungen der Untertanen für die so notwendige Liberalisierung des preußischen Obrigkeitsstaats ruhen. Und der Kronprinz gibt und umgibt sich liberal: Ihm gegenüber stehen zwei Mitbegründer der Fortschrittspartei, Berlins Bürgermeister und Reichstagspräsident Max von Forckenbeck, daneben im roten Talar als Dekan seiner Fakultät der Mediziner Rudolf Virchow, dessen politisches Leitmotiv Freiheit mit ihren Töchtern Bildung und Wohlstand ist. Zwischen dem Kronprinzen und Virchow ist der Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz, Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt zu sehen. Schließlich erweist von Werner seinem berühmteren ebenfalls liberal gesinnten Kollegen Adolph Menzel, dem Maler bekannter Hofszenen, seine Reverenz und lässt den kleinen Mann durch die Tür in den Weißen Saal treten [Bart93].
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Nur Nestbeschmutzer?
Das Zweite Reich kennt keine Volkssouveränität und viele Deutsche können dem Obrigkeitsstaat nichts abgewinnen. So auch der Historiker, Literaturpreisträger und Repräsentant des intellektuellen Liberalismus Theodor Mommsen als er verbittert schreibt: In meinem innersten Wesen wünschte ich, ein Bürger zu sein, doch das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, der Beste, über den Dienst im Gliede und dem politischen Fetischismus nicht hinauskommt.
Die Verfassung des Reiches von Wilhelm und Gottes Gnaden
Mommsen greift damit Heines Gedanken in seinem Versepos Deutschland ein Wintermärchen von vor 50 Jahren wieder auf:
Noch immer das hölzern pedantische Volk,
In das gleiche Horn stößt der holsteinische Theodor Storm: Solange die Deutschen Preußens Kommandoton gehorchen, so lange sind wir doch nur noch ein Volk von Knechten [Eren10]. Auch Theodor Fontane geht 1893 in einem Brief an seinen Freund Georg Friedländer mit Preußen scharf ins Gericht: Jede Gesellschaftsklasse, jeder Hausstand hat ein bestimmtes Idol. Im ganzen darf man sagen: Es gibt in Preußen nur sechs Idole, und das Hauptidol, der Vitziputzli des preußischen Kultus, ist der Leutnant, der Reserveoffizier. Da haben sie den Salat, und nimmt die Figur des Diederich Heßling in Heinrich Manns Roman Der Untertan vorweg. Am 2. November 1896 setzt er seinen kritschen Brief fort: Alles, was jetzt bei uns obenauf ist, entweder heute schon oder es doch vom Morgen erwartet, ist mir grenzenlos zuwider: dieser beschränkte, selbstsüchtige, rappschige Adel, diese verlogene oder bornierte Kirchlichkeit, dieser ewige Reserveoffizier, dieser greuliche Byzantinismus. Ein bestimmtes Maß von Genugtuung verschafft einem nur Bismarck und die Sozialdemokratie, die beide auch nichts taugen, aber wenigstens nicht kriechen. Und das allein schon ist ein Verdienst.
Apropos Kirchlichkeit. Nachdem um 1880 der Kulturkampf eigentlich ausgestanden war, tritt ausgerechtet Treitschke 1883 zur Feier des 400sten Geburtstags Luthers nach: … leider nicht ein Fest aller Deutschen. Millionen unserer Landsleute stehen teilnahmlos (!) oder grollend abseits; sie wollen, sie können nicht begreifen, dass der Reformator unserer Kirche der gesamten deutschen Nation die Bahnen einer freien Gesittung gebrochen hat, dass wir in Staat und Gesellschaft, in Haus und Wissenschaft überall noch den Atem seines Geistes spüren [Ober18].
Germania, mir graut vor dir
Georg Herwegh, eine der Persönlichkeiten der deutschen Revolution von 1848, war erst 1866 im Rahmen einer allgemeinen Amnestie für politische Flüchtlinge mit seiner Frau Emma aus der Schweiz nach Deutschland zurückgekehrt. Er nimmt Wohnsitz in Baden-Baden und schließt sich 1869 der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten marxistisch-revolutionären Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) an. Nach dem Sieg über den Erzfeind schreibt er im Februar 1871 seinen Epilog zum Kriege:
Im nächsten Januar 1872 reicht Herwegh das Gedicht Den Siegestrunkenen nach:
Nach diesen Versen wird Herwegh prompt aus der Schillerstiftung ausgeschlossen: Wer im Stande ist, dergleichen Schmähungen auf Kaiser und Reich zu publicieren, dessen Name verdient für immer aus den Analen deutscher Literatur gestrichen zu werden [Sieb04]. Heinrich von Treitscke schimpft Herwegh einen Trunkenbold der Phrase, der im Gegenzug Treitschkes rassische Beschimpfung der Juden mit dem Satz: Die Rassenfrage gehört in die Gestüte, nicht in die Geschichte kommentiert [Krau14a].
Dagegen verteidigt der Dichter Emanuel Geibel das Bismarckreich und hält den Kritikern der oktroyierten deutschen Einheit ihre Unfähigkeit vor:
Was habt ihr denn, ihr neunmal Weisen,
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Das Badener Siegesdenkmal
Otto Winterer (Relief im Kapellenkranz des Freiburger Münsters)
Badische Pickelhaube: |
Baden, zwar ohne eigene Briefmarken, aber reichstreu
Freiburg um 1870 [Stad84] Baden erweist sich von Anfang an als treuer Teil des Zweiten Deutschen Reiches, denn das Herrscherhaus ist auch verwandtschaftlich mit dem Kaiserhaus verbunden: Großherzog Friedrich als Ehemann Prinzessin Luises ist der Schwiegersohn Wilhelms I. Die badische Regierung hatte bereits nach der Schlacht bei Sedan für einen Anschluss des Großherzogtums an den Norddeutschen Bund plädiert, doch dieses Vorpreschen wird nicht honoriert [Enge05], Jetzt nach erfolgter Einigung wird bitter vermerkt, dass Baden im Gegensatz zu Bayern und den Schwaben (Württemberg), die bei der Reichsgründung Sonderrechte verlangt hatten, keine eigenen Briefmarken drucken darf.
Nach 1871 begeht man zwar in Baden wie überall im Reich den Sedantag, doch pflegt man im Südwesten zusätzlich den Belfort-Mythos. Das gemeinsame Kriegserlebnis soll die Deutschen einen und muss gestreckt werden. So wird im Jahre 1876 in Freiburg im Beisein Wilhelms I., des Großherzogs und Bismarcks das offizielle Siegesdenkmal Badens eingeweiht.
1888
Das Jahr 1888 geht als Dreikaiserjahr in die Geschichte ein. Kaiser Wilhelm I. stirbt am 9. März in Berlin und ihm folgt sein Sohn Friedrich Wilhelm als Friedrich III. nach. Viele Menschen im Reich erhoffen sich von seiner Regentschaft Fortschritt und Freiheit. Darunter sind viele Arbeiter, die unter Bismarcks Gesetz vom 22. Oktober 1876 gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie leiden.
Deutschlands schönste Hoffnung
Doch Friedrich unter einem fortgeschrittenen Kehlkopfkrebs leidend kann sich nur noch schriftlich verständigen. Zu spät! Der furchtbare Gedanke verfolgt mich Tag und Nacht. Wie viel Gutes hätte er tun können! Möge die Zeit ihm gegeben und es ihm gegönnt sein, seinem Volk und Europa zum Segen zu gereichen, schreibt Friedrichs Frau Kaiserin Victoria verzweifelt. Als sie, die älteste Tochter Queen Victorias, das Ende absieht, klagt sie: Wir werden im Allgemeinen nur als vorüberhuschende Schatten angesehen, die bald von der Wirklichkeit in der Form von Wilhelm ersetzt werden. Nach 99 Tagen am 15. Juni stirbt Friedrich in Potsdam. Noch am gleich Tag folgt ihm sein ältester Sohn Wilhelm, der als Wilhelm II. großmäulig verkündet: Zu Großem sind wir noch bestimmt, und herrlichen Tagen führe ich Euch entgegen. Mein Kurs ist der richtige und er wird weiter gesteuert [WDR13].
Anfang des 20. Jahrhunderts: Salutierende und grüßende
Untertanen im verschneiten Tiergarten
Erfahrbar verbesserte Lebens- und Partizipationschancen
Auch ohne Wilhelms markige Worte ist die Entwicklung des 2. Reiches gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts atemberaubend. Hans-Ulrich Wehler bestätigt in seinem Werk Deutsche Gesellschaftsgeschichte dem Kaiserreich ein hohes Maß an Rechtssicherheit, politische Teilhaberechte wie nur wenige westliche Staaten, sozialpolitische Leistungen wie sonst nur Österreich und die Schweiz, Freiräume für entschiedene Kritik, Erfolgserlebnisse für die Opposition, Meinungsfreiheit mit seltenen Zensureingriffen, Bildungschancen, Aufstiegsmobilität, Wohlstandsanstieg» und «erfahrbar verbesserte Lebens- und Partizipationschancen [Wehl95].
Ein wachsender und wohl notwendiger Nationalismus hält die heterogenen "Länder" im 2. Reich zusammen. Bei den vielen Minderheiten im Reichsgebiet und starken Zuwanderungen zumal aus Polen erhebt sich erneut die Frage, wer denn nun Deutscher sei. Der definiert sich nach außen durch die Frontstellung gegen die Polen im Osten und die Franzosen im Westen – nach innen durch die Abgrenzung von den Gegnern des neuen Nationalstaats. Dazu zählten die internationalistischen» Sozialdemokraten, die Katholiken mit ihrer ultramontanen Verbindung zur Papstkirche in Rom sowie die einzige nichtchristliche Minderheit in Deutschland, die Juden [Herb16]. Der klassisch christliche Antisemitismus wandelt sich nach und nach zu einem rassischen Antisemitismus. So betont der Reichstag, dass die Abstammung, das Blut das Entscheidende für den Erwerb der Staatsangehörigkeit ist. Diese Bestimmung dient hervorragend dazu, den völkischen Charakter und die deutsche Eigenart zu erhalten und zu bewahren [Herb16], was auf in Deutschland geborene Ausländer nicht zutrifft und die deshalb im Gegensatz zu Frankreich und den USA, bei denen das jus soli gilt, nicht Deutsche sind.
Wenn ich Kaiser wär'
In diesem Sinne publiziert der Mainzer Rechtsanwalt Heinrich Claß, jahrelanger Führer des radikalnationalistischen Alldeutschen Verbands, 1912 unter Pseudonym ein Buch mit dem Titel Wenn ich der Kaiser wär’, in dem er die verbreiteten Angstparolen der politischen Rechten zusammenfasst. Der gewaltige wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahrzehnte habe zum Verlust von Heimat und Gebundenheit, zum Aufstieg der Sozialdemokratie und zur Zerstörung des Mittelstands geführt; Dekadenz und Amerikanisierung beherrschten die Kultur*. Zugleich sei mit der Hochindustrialisierung die hohe Zeit der Juden gekommen, weil deren Instinkt und Geistesrichtung auf den Erwerb gehe. Die neue Zeit mit ihrer Hast, Rücksichtslosigkeit und moralischen Gefühllosigkeit sei von den Juden geprägt, die mit ihrer Skrupellosigkeit, ihrer Habgier das Wirtschaftsleben beherrschen [Herb16]. *Georges Clemenceau meinte: Amerika - die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne Umweg über die Kultur.
Dabei sind die jüdischen Mitbewohner - Jahrhunderte von Ausgrenzung und Verfolgung geprägt – bildungsbeflissener als ihre christliche Umgebung und gewohnt, ihnen verbliebenne Nischen in der Gesellschaft auszunutzen und mit neuen Ideen auszubauen.
Weil ihnen im 2. Reich der akademische und militärische Aufstieg verwehrt ist, legen sie als Krämer und Händler Ende des 19. Jahrhunderts die Grundsteine für die großen Kaufhäuser im Reich wie Rudolph Karstadt, Hermann (Hertie), Leonhard und Oscar Tietz.
In Freiburg und Umgebung sowie im benachbarten Elsass und in der Schweiz baut die Dynastie Knopf, die Brüder Albert, Max, Moritz und Sally, eine Kette von Warenhäusern auf.
Warenhaus Sally Knopf in Freiburgs Kaiserstraße
Claß war nach Hitlers
Tibi semper gloria
Freiburg erlebt den wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerzeit nicht zuletzt wegen des annektierten Elsass', denn Kolmar!! im linksrheinischen Reichsland wird durch eine Eisenbahn mit der Stadt verbunden*, die einen bis dato unbekannten Bauboom unter seinem Bürgermeister Otto Winterer, verzeichnet. Über dem Eingang zu Winterers Arbeitszimmer im Rathaus liest man heute noch den Wahlspruch: Tibi semper gloria (Dir, der Stadt, immer Ehre). *Die Linie ist seit 1944 unterbrochen, doch noch heute fährt die Bahn im Elsass in alter preußischer Tradition rechts, während im übrigen Frankreich bei der Bahn Linksverkehr herrscht.
Als Bewahrer des mittelalterlichen Stadtbildes wendet sich Winterer energisch gegen den Abriss der beiden verkehrsbehindernden mittelalterlichen Stadttore: Solange ich in Freiburg regiere, bleiben diese Kronzeugen von Freiburgs herrlicher Vergangenheit, diese Jugendgespiele unseres Münsterturmes stehen! [Kalc18] und lässt getreu seinem Motto: Das Dorf hat Dächer und die Stadt hat Türme Martins- und Schwabentor mit historisierenden Aufsätzen überhöhen.
Türme über Freiburg um 1920 von rechts nach links:
Schwabentor,
Bei seiner Pensionierung 1913 nach 25‑jähriger Regierung nennt man ihn den zweiten Gründer Freiburgs. In der Winterer-Zeit entstehen das Stadttheater, das neue Rathaus, das Kollegiengebäude der Universität und neue Wohngebiete wie die Wiehre und der Stühlinger.
Alldeutsches Pensionopolis
Für Freiburg als Touristenstadt wird bei den Norddeutschen neben dem milden Klima, dem Münster, dem Schauinsland, den vorzüglichen Gasthöfen auch mit der evangelischen Kirche geworben. Die Zahl der Gebäude und der Einwohner Freiburgs verdoppelt sich. Das liegt auch am Zuzug vor allem älterer Menschen aus dem kalten Norden, so dass die Stadt bald den Namen Alldeutsches Pensionopolis erhält. Diese im Volksmund genannten Rennars machen bald 20% der Haushalte aus [Chic07]. Das von Winterer mit viel Historismus verschönte und mittelalterlich anmutende Stadtbild trifft den Zeitgeist. Die Nähe von Schwarzwald, Kaiserstuhl und das warme Klima ziehen die Menschen an.
Besuch in Freiburg im Sommer 1909. Großherzog
Friedrichs II.
links mit Pickelhaube auf dem Balkon des Neuen Rathauses. Neben ihm Gattin
Hilda
und Oberbürgermeister Otto Winterer. Im Hintergrund Statuen der im letzten Krieg
eingeschmolzenen und für Freiburg
wichtigen Herrschergestalten:
Die Freiburger Idylle übertüncht stärker werdende soziale Spannungen. Während in der Wiehre (Goethe- oder Reichsgrafenstraße) und in Herdern (Wölflin- und Tivolistraße) meist zugezogene Millionäre als Couponschneider auf der Sonnenseite wohnen, lebt etwa im Stühlinger ein wachsendes Proletariat von der Hand in den Mund.
Ein historisches Gemälde von 1913 aus Freiburgs amerikanischer Partnerstadt Madison, Wisconsin. Es hängt im Senatssaal im Capitol. In einer allegorischen Darstellung reicht die Friedensgöttin der Marianne den Friedenslorbeer, während Germania und Britannia den Flottenvertrag diskutieren? Wir wissen, die drei Damen haben versagt. Ein Jahr später bricht der Erste Weltkrieg aus und stürzt Europa in eine Hölle aus Blut, Hunger und Ruinen.
Es ist eine ungeheuerliche Provokation im gut bürgerlichen Freiburg, als die körperlich kleine aber stimmgewaltige Rosa Luxemburg auf einer SPD-Veranstaltung am 7. März 1914 am Vorabend des großen Krieges vor 2000 Zuhörern in der überfüllten Stadthalle die Klassenunterschiede und den deutschen Militarismus anprangert. Als radikale Kriegsgegnerin ruft sie den Männern und Frauen der Arbeit zu: Ihr schickt eure Söhne ins Feuer, ihr habt’s an eurem Buckel auszukosten [Sieb13a]. Obgleich bereits wegen Aufrufs zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit - allerdings wegen der eingereichten Revision noch nicht rechtskräftig – verurteilt, ruft die rote Rosa die Arbeiter zum Generalstreik auf. Dazu kommt es nicht, doch treten unter dem Einfluss der Rede der in bürgerlichen Augen Vaterlandsverräterin 280 Freiburger in die Sozialdemokratische Partei ein.
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Urkunde
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Das Inferno des 1.Weltkrieges oder das Ende der guten alten Zeit
Im August 1914 endet nach 43 Jahren die bis data drittlängste Friedensperiode in Deutschland. Für den Fundamentalisten und Scharf-macher Heinrich von Treitschke stellt das Attentat in Sarajewo vom 28. Juni 1914 eine Ehrverletzung dar, denn er hatte seine Studenten gelehrt: Wer die Ehre eines Staates auch nur äußerlich antastet, zweifelt damit das Wesen des Staates an ... Ein Staat muß ein sehr hoch entwickeltes Ehrgefühl besitzen, wenn er seinem Wesen nicht untreu werden will. Er ist kein Veilchen, das im Verborgenen blüht; seine Macht soll stolz und leuchtend dastehen, auch symbolisch darf er sie nicht bestreiten lassen. Ist seine Flagge verletzt, so ist es seine Pflicht, Genugtuung zu fordern und, wenn sie nicht erfolgt, den Krieg zu erklären, mag der Anlaß noch so kleinlich erscheinen; denn er muß unbedingt darauf halten, die Achtung, die er in der Staatengesellschaft besitzt, sich auch zu bewahren [Frev10].
Feindliche Ausländer haben Freiburg zu verlassen und werden je nach ihren finanziellen Möglichkeiten in Baden-Baden oder in Donaueschingen interniert [Chic07]
Als er am 25 Juli 1914 vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien erfährt, schreibt der Freiburger Max Meinzer in sein Tagebuch: Der Königsmord wird gesühnt werden. Serbien hat das Ultimatum Österreichs nicht bedingungslos angenommen, der Krieg ist hiermit erklärt. Und später am 31. Juli: Die drohenden schwülen Gewitterwolken am Horizonte Europas werden sich wohl entladen müssen, die Luft muss wieder klar werden, wer herrschen soll über die Welt ... Das war wohl auch der Gedanke, der heute abend die Gemüter aller beseelte, als die Kriegserklärung bekannt wurde. Das Leben auf der Kaiserstraße, die Begeisterung der Volksmassen war einfach großartig [LBH14].
Bei der Mehrzahl der Freiburger Professoren will kein Jubel aufkommen. Ebenfalls am 25. Juli feiern der Historiker Friedrich Meinecke, der Altphilologe Richard Reitzenstein und der Anatom Franz Keibel mit vielen Kollegen ihren Abschied von Freiburg und ihre Rufe nach Berlin, Göttingen bzw. Straßburg, als die Nachricht vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen eintrifft: Mit einem Schlage war das Festmahl zu Ende und in tief ernster, ich muß wohl sagen bedrückter Stimmung gingen wir durch die Kaiserstraße nach Hause, vorbei an dem Siegesdenkmal von 1870, um das sich eine Studentenschar gesammelt hatte und jubelnd die Wacht am Rhein sang. Uns Alten war hier nicht zum Jubeln. Das was jetzt vor uns lag, war viel dunkler und unberechenbarer als das was einst im Juli 1870 aufgeflammt war. Von dem Willen aber, stark und entschlossen zu bleiben, waren wir alle erfüllt [Schr15].
Kopf an Kopf standen die Menschen und sangen Deutschland, Deutschland über alles
Der Kriegszustand wird am 31. Juli in Extrablättern verkündet, führt besonders bei den immer noch den Habsburgern anhängenden Freiburgern zu chauvinistischen Ausbrüchen und löst ungeheuren Jubel aus. In der Kriegschronik der Stadt Freiburg lesen wir: Im Museum* und in den anderen Kaffees müssen die Musikkapellen immer wieder vaterländische Weisen spielen. Irgendeiner schwingt sich auf einen Straßenstein, in den Wirtschaften auf einen Stuhl oder einen Tisch und hält eine begeisterte Rede von deutscher Ehre, deutschem Stolz und deutscher Brudertreue[Kalc04]. Es ertönen tausendstimmige Hochrufe auf unsere Verbündeten, fahnenschwingende Studenten ziehen durch die Stadt, patriotische Lieder und Ansprachen bestimmen das Straßenbild [Hauß94]. *Beliebtes Café im Gebäude der Freiburger Museumsgesellschaft
Auch der Professor für Kunstgeschichte Carl Sutter beschreibt die abgehobene Stimmung auf den Straßen Freiburgs kurz vor Kriegsausbruch: Imposant und überraschend war der patriotische Aufschwung der Bevölkerung. Ich habe hier am Abend, als die österreichische Entscheidung gegen Serbien bekannt wurde, Szenen gesehen und ein Straßenbild, wie es wohl seit 1870 nie mehr gewesen ist. Vom Martinstor vor der Freiburger Zeitung [das ursprüngliche Gebäude am Martinstor] bis zur Salzstraße war die Menge gedrängt. Kopf an Kopf standen die Menschen und sangen Deutschland, Deutschland über alles, dann ein großer Zug zum Siegesdenkmal ... Die österreichischen Studenten wurden in einem patriotischen Triumphzug zum Bahnhof begleitet dagegen werden einige Franzosenjünglinge und Russen, die Schmährufe gegen Österreich und Deutschland ausstießen und Vive la France riefen, auf der Kaiserstraße [heute Kaiser-Josef-Straße] umgehend verprügelt und mussten von der Polizei geschützt werden ...
Zu den patriotischen Ausbrüchen meint Sutter: Die begeisterten Sänger haben ja freilich keine Verantwortung für das, was geschieht, aber über ihre Stimmung kann man sich doch nur freuen und sie als ein gutes Omen begrüßen. Über eine Friedensvermittlung kann man sich eigentlich nur dann freuen, wenn sie auf eine Reihe von Jahren anhält. Es kommt einem die Besorgnis, dass die Triple Entente [Frankreich, Großbritannien und Russland] unseren Kaiser jetzt einseifen will, um sich für eine bessere Gelegenheit bereit zu machen und dann mit günstigen Chancen über uns herzufallen [Zimm14a]. In der Tat hatte sich das militärische Kräfteverhältnis seit der Jahrhundertwende zu Ungunsten der Mittelmächte Deutschland, Österreich und Italien verschoben.
Das tapferste Volk sind die Deutschen
Schon Heine hatte erkannt: Das tapferste Volk sind die Deutschen. Auch andere Völker schlagen sich gut, aber ihre Schlaglust wird immer unterstützt durch allerlei Nebengründe ... Die Deutschen sind tapfer ohne Nebengedanken, sie schlagen sich, um sich zu schlagen, wie sie trinken, um zu trinken. Der deutsche Soldat wird weder durch Eitelkeit noch durch Ruhmsucht noch durch Unkenntnis der Gefahr in die Schlacht getrieben, er stellt sich ruhig in Reih und Glied und tut seine Pflicht; kalt, unerschrocken, und seherisch fügt er hinzu: Wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: der deutsche Donner hat sein Ziel erreicht [Loew02].
In seinem Aufruf an das deutsche Volk möchte der Kaiser für das Ansehen Deutschlands als Großmacht das Schwert entscheiden lassen.
Der metaphysische Krieg
Doch es geht auch philosophischer. In einem Artikel Der metaphysische Krieg in der Frankfurter Zeitung vom 1. November 1914 beschwört der Philosoph Leopold Ziegler zunächst den deutschen Menschen: Wir nahmen eine einzige, durch alle Einzelwesen flutende Erleuchtung wahr, die uns wie die Male der hochheiligen Stigmatisation auf Stirn und Herzen brannte: wir deutscher Mensch sollen ausgetilgt, zerschmettert und in Nichts gestoßen werden. Wir deutscher Mensch in Staub getreten und im Dampf des eigenen Blutes erstickt…
... um dann daraus die Konsequenz zu ziehen, dass am deutschen Wesen die Welt genesen wird: Wie wir in diesem Kampf um unsere deutsche Menschlichkeit Kräfte entfesseln werden, deren wir uns nie vorher bewußt waren und nicht bewußt sein durften, - so wird aus den Wolkendünsten fiebernder Schlachten das reine Gestirn eines noch ungedachten Weltgedankens glanzreich emporsteigen. Und wie es auch kommen mag: wir werden nach diesem Krieg anders sein und mit uns wird die Welt ein neu Gesicht empfangen haben [Zieg14]. Es kam so, aber dann doch ganz anders ...
Eine Welle des Wahnsinns hat den Geist der Christenheit überspült
Einige wenige, weiterdenkende Menschen teilen die Kriegsbegeisterung nicht. So schreibt der damals 39-jährige Marineminister seiner Majestät Winston Churchill, nachdem er zuvor die britische Flotte in Alarmbereitschaft versetzt hatte, an seine Frau Clementine am 28 July (1914) Midnight: My darling One & beautiful – Alles treibt auf Katastrophe und Zusammenbruch zu. Ich bin interessiert, in vollem Gang und glücklich. Ist es nicht schrecklich, so gebaut zu sein? Die Vorbereitungen üben auf mich eine widerliche Faszination aus. Ich bete zu Gott, dass er mir solche furchtbaren Anwandlungen der Leichtigkeit verzeiht. – Und doch würde ich mein Bestes geben für den Frieden & nichts könnte mich dazu verleiten, unberechtigterweise den ersten Schlag zu führen. Niemand kann die Folgen absehen. Ich habe mich gefragt, ob diese dummen Könige und Kaiser nicht zusammenkommen und wahres Königtum wieder beleben könnten dadurch, dass sie die Nationen vor der Hölle bewahren. Wir alle driften in dumpfer, starrer Trance dahin. Als ob es die Operation von jemand anders wäre [Star14].
Jeder Schuss ein Russ', jeder Tritt ein Britt', jeder Stoß ein Franzos'
Von überall her strömen Reservisten und Freiwillige nach Freiburg. Stolz präsentiert der Unteroffizier der 12. Kompanie des in der Stadt stationierten Badischen Infanterie-Regiments 113 den größten und kleinsten Kriegsfreiwilligen, die mit ihren Kameraden bereits am 6. August aus der Karlskaserne in Richtung Westen abrücken.
Der größte und kleinste Kriegsfreiwillige
Am 7. August sind in Freiburg bereits über 3000 Kriegsfreiwillige registriert. Der Truppenaufmarsch findet im Oberelsass statt, aber dafür wird die Stadt Standort für Truppenteile aus Kolmar und Mühlhausen.
Nach Kämpfen mit französischen Truppen bei Mülhausen treffen die ersten Verwundeten am 8. August in Freiburg ein. In den eilig in Schulen und Turnhallen eingerichteten Lazaretten liegen Ende des Monats bereits mehr als 2000 verwundete Soldaten [Kalc04]. Bald strömen auch Flüchtlinge aus dem Elsass in die Stadt.
Die Beschießung von Reims im September 1914 In ihrer Kriegsbegeisterung sehen die Menschen nicht, dass sich innerhalb von 40 Jahren die Kriegskunst grundlegend verändert hat. Äußerlich muss der bunte Rock dem Feldgrau und die lächerliche Pickelhaube dem Stahlhelm weichen. Viel gravierender ist jedoch die Weiterentwicklung der Waffentechnik, um hier nur das Maschinengewehr zu nennen. Plötzlich entscheidet sich ein Krieg nicht mehr in einigen wenigen Schlachten. Der Bewegungskrieg mutiert zum Stellungskrieg. Die Männer sterben in den Schützengräben an der Front, statt Weihnachten 1914, wie die meisten gehofft hatten, zu Hause mit ihren Familien zu feiern. Da versuchen sich die Frontsoldaten in Galgenhumor:
Das Haar wächst uns zur Mähne
Durchnässt sind alle Kleider
Doch dieser Heroismus
Die Schicksalsorte heißen nicht mehr Mars-la-Tour und Sedan wie 1870/71, sondern Ypern und Verdun. Bald übertönen das Heulen der schweren Granaten und das Trommelfeuer der Maschinenwaffen das anfängliche Hurragebrüll oder es erstickt im Giftgas.
Freiburger warten auf dem Münsterplatz auf Nachrichten von der Front. Man beachte im Gegensatz zu heute die Kopfbedeckungen von der Schülermütze bis zur Kreissäge. Nur Ernst Jünger kann anfänglich dem Stellungskrieg noch Positives abgewinnen, wenn er am 27. Januar 1915 in sein Kriegstagebuch schreibt: Heute an Kaisers Geburtstag waren wir im Graben. Um 12 Uhr wurde geblasen und wir schrieen den Franzosen 3 Hurrahs entgegen. Dann sangen wir die erste Strophe von: Heil Dir im Siegerkranz [Jüng10].
Caspar René Gregory gebürtiger Amerikaner und seit 1891 ordentlicher Professor für Theologie in Leipzig meldete sich 1914 als 68-Jähriger und damit ältester Freiwilliger an die Westfront, weil nach seiner Ansicht, der Englische Imperialismus, Franzosen und der russische Zarismus Deutschland in den Krieg getrieben hätten: Als England, das mächtige England, das Land, dass Burenfrauen und -kinder ermordet, Indien ausgebeutet und es verhungernd zurückgelassen hat, als dieses England den Krieg erklärte, hatte ich keinen andere Wahl, als gegen es zu kämpfen [Gott13].
Auch der Dichter Richard Dehmel meldet sich bei Ausbruch des Krieges freiwillig zum Heer. Seine Liebe gehört jedoch der Flotte, welche die Teufelshunde bekämpft, wenn auch dabei einige Matrosen den nassen Heldentod sterben müssen, wie er in seinem Gedicht von 1914 Jetzt Mützen ab beschreibt:
Der Kaiser, der die Flotte schuf
Manch Braven wohl verschlang die Schlacht
Der Maler Franz Marc sieht wie viele den Krieg als Fegefeuer für einen Neuanfang an: Um Reinigung wird dieser Krieg geführt und das kranke Blut vergossen. Die Artilleriekämpfe haben etwas unsagbar Imposantes und Mystisches [Baue16]. Auch sein Kollege August Macke zieht begeistert für sein Vaterland in den Krieg, doch nach seiner Feuertaufe an der Westfront schreibt er: Der Krieg ist von einer namenlosen Traurigkeit. Die Leute, die in Deutschland im Siegestaumel leben, ahnen nicht das Schreckliche des Krieges.
Bereits am 26. September 1914 fällt Macke bei Perthes-lès-Hurlus in der Champagne. In seinem Nachruf auf Macke klagt Marc, der sich längst über den Leichengeruch beklagt, den seine Nase nicht verträgt: Im Krieg sind wir alle gleich. Aber unter tausend Braven trifft eine Kugel einen Unersetzlichen. Mit seinem Tode wird der Kultur eines Volkes eine Hand abgeschlagen, ein Auge blind gemacht … Mit seinem Tode knickt eine der schönsten und kühnsten Kurven unserer deutschen künstlerischen Entwicklung jäh ab, keiner von uns ist imstande, sie fortzuführen [Muse10]. Wie wahr; Franz Marc fällt am 4. März 1916 vor Verdun.
Mit dem Kaiser (zweiter von rechts) im Feld
Ein Bruderzwist im Hause Mann
Thomas Mann ist kriegsbegeistert: Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte! Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden. [Harp14].
Den gleichen Ton trifft der Freiburger Privatdozent für Theologie, Engelbert Krebs, wenn er am 5. August 1914 schreibt: Ist es nicht eine Gnade Gottes, die unser deutsches Volk vor dem Versumpfen bewahrt? Hat man nicht immer gesagt, wir brauchen einmal Krieg, der uns moralisch aus der Niederung und politisch aus dem Parteihader herausreißt? [Schr15]
Dagegen beschimpft Heinrich Mann die Tiefschwätzer, die die gedankliche Stützen für den Ungeist liefern und dann direkt an seinen Bruder Thomas gerichtet: Durch Streberei werden Nationaldichter für ein halbes Menschenalter, mitrennend, immer anfeuernd, vor Hochgefühl von Sinnen, verantwortungslos für die heranwachsende Katastrophe [Harp14].
Albert Einstein schreibt ganz pazifistisch im Vaterländischen Gedenkbuch, in dem Berlins Goethebund im Jahre 1916 Kriegsbeiträge von Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern veröffentlicht, am Ende seines Artikels allerdings ein wenig hilflos: Doch wozu viele Worte, wenn ich alles in einem Satze sagen kann, und noch dazu in einem Satze, der mir als einem Juden wohl ansteht: Ehret Euren Meister Jesus Christus nicht nur mit Worten und Gesängen, sondern vor allem durch Eure Taten [Berl16].
Lazarettstadt Freiburg
In nur 80 km von Freiburg schwere Kämpfe in den Vogesen: Sterben am Rossmannskopf Freiburg ist Lazarettstadt. Meist treffen die Verwundetentransporte nachts am Güterbahnhof ein. Die Listen der Gefallenen werden länger. Die Freiburger Zeitung veröffentlicht fast täglich Verlustlisten des in Freiburg stationierten Infanterie-Regiments 113 und des 5. Badischen Feldartillerie-Regiments Nr. 76, beide Teil der 29. Heeresdivision und des XIV. Armeekorps. Doch bereits Anfang 1915 verhindert das Militär die Veröffentlichung der Listen. Man kann sie nur noch in den Redaktionen der Zeitungen einsehen; die Angehörigen der Gefallenen werden direkt benachrichtigt [Serg14].
Eiserner Baum vor dem Schwabentot
Zur Unterstützung der finanziellen Versorgung der Witwen und Waisen errichten der städtische Kriegsfürsorgeausschuss und das Rote Kreuz am Schwabentor im November 1915 einen vier Meter hohen Lindenstamm, den Eisernen Baum, in den die Bürger wahlweise Eisen- (1 Mark), Silber- (3 Mark) oder Goldnägel (10 Mark) einschlagen dürfen. Dafür bekommen die Spender eine Urkunde mit dem Spruch: Notstand zu wehren, Deutschland zu ehren, Schlug ich den Nagel ein. Gott möge mit uns sein.
Die Weiherede hält das Mitglied des Rotkreuz-Ausschusses Rechtsanwalt und Stadtrat Konstantin Fehrenbach*. Er endet mit dem Segensruf: Unser geliebter Kaiser, unser deutsches Volk und Heer, unser herrliches Vaterland – sie leben hoch! [Sigm14]. Schon nach drei Wochen zählt man 5000 Nägel und im August 1916 schlägt Großherzog Friedrich höchstselbst einen goldenen Nagel ein [Chic07]. *der spätere Reichskanzler in der Weimarer Republik
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Liebe Geschichtsfreunde, bis Anfang 2006 konntet Ihr an dieser Stelle das eindrucksvolle und realistische Antikriegsgemälde Flandern von Otto Dix auf Euch wirken lassen.
Mit Brief vom 25.01.2006 hat mich die Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst darüber informiert, dass ich mit der privaten Darstellung im Internet das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung nach § 19 a des UrhG verletzt habe.. Um dem Unterlassungsanspruch nachzukommen, habe ich das Bild entfernt. Stattdessen zeige ich hier drei Fotos von der Westfront. Ich bedauere, Euch das mahnende und zum nachstehenden Text aus Storms of Steel von Ernst Jünger so passende Antikriegsbild von Otto Dix nicht mehr zeigen zu dürfen:
It started to drizzle. I managed to draw off some muddy water in my helmet. I had lost all sense of direction and I couldn't work out exactly where the line of the front was. There were strings of shell-holes everywhere, each one bigger than the last, and from the bottom of these hollow ditches we could only see clay walls and grey sky. There was a storm brewing; the thunder claps were drowned by the sound of a fresh burst of rolling fire. I flattened myself against the side of the crater. A mound of clay hit me in the shoulder and some heavy pieces of shrapnel flew over my head. I gradually lost all notion of time, I didn't know whether it was morning or evening.
In Flandern
Dazu passt auch die makabre Beobachtung Jüngers, die er 12. März 1916 in sein Kriegstagebuch notiert: Ein Grab, in dem 6 deutsche Krieger ruhen, war durch eine Granate aufgewühlt, aus dem Trichter sahen drei Paar Stiefel heraus, in denen Zeugfetzen und gebleichte Beine steckten. Ein seltsamer Anblick. Nicht einmal die Toten haben ihre Ruhe, sie werden wieder an die Oberwelt gezerrt, ihre Beine von Splittern gebrochen und ihre Knochen von Kugeln durchlöchert [Jüng10].
Gefallene Poilus In dem Stellungskrieg, bei dem um Verdun die durch Granaten mehrfach aufgewühlte Erde einer Mondlandschaft gleicht, beklagen die Franzosen 317 000 tote und verwundete Soldaten, die Deutschen nur 282 000 [Sont11].
namen und art der verletzungen, namentlich der kinder schleunigst hierher
In diesem Krieg gibt es ritterliche Zweikämpfe höchstens in der Luft, wo todesmutige Piloten anfänglich bei Abschüssen auf Rettungsfallschirme verzichten müssen. Doch bald stehen auch Flugzeuge für das anonyme Töten.
Anfang Dezember 1914 erlebt Freiburg seine ersten Bombenangriffe, deren Folgen die Reichsregierung umgehend propagandistisch ausschlachtet: namen und art der verletzungen, namentlich der kinder schleunigst hierher (an den Generalstab in Berlin) erwünscht [Hauß94]. Da die Nachricht erst die Kontrollstellen in Berlin und Karlsruhe passieren muss, informiert die Freiburger Zeitung ihre Leser nur mit Verzögerung.
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Beim dritten Angriff kurz vor Weihnachten am 13. Dezember 1914 auf Freiburg treffen zwei französische Doppeldecker des Typs Farmer MF11 mit ihren Bomben die Innenstadt. In Unterlinden werden elf Menschen verletzt, zwei davon sterben später [Serg14].
Von allen Städten im Reich erleidet Freiburg im Laufe des Krieges mit insgesamt 25 die meisten Luftangriffe. Dabei werden 289 Bomben abgeworfen. Man zählt 31 Tote. Ein gefangener französischer Pilot gibt zu Protokoll, dass er kein besonderes Ziel hatte, pourvu que ca fasse des victimes boches*. *wenn es nur deutsche Opfer gibt
Grand-duché de Baden: Aviateurs français passant au-dessus de Fribourg-en Brisgau* [Thom06] *Großherzogtum Baden: Französische Flieger über Freiburg im Breisgau
Die Flakbatterien wissen häufig nicht, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. So wird im August 1915 ein gewisser Hermann Göring beim Landeanflug auf den Freiburger Flughafen versehentlich von freundlichem Feuer abgeschossen [Chic07].
Im Gegenzug: Deutsche Flugzeuge über Dover (Zeitgenössische Postkarte)
Jetzt weiß man nicht mehr, wo man hinflüchten soll
In einem Brief an eines ihrer Kinder schildert Babette Wetter, eine Einwohnerin Freiburgs, die Schäden des Bombenangriffs vom 14. April 1917: Dass Flieger uns am Samstag heimgesucht haben, habt ihr ja schon gehört, aber welch großer Schaden durch sie entstanden ist, könnt ihr euch keinen Begriff machen. Überall in der Stadt sind Bomben eingeschlagen. In der Sternwaldstraße fiel eine Bombe in ein Haus, welche nicht platzte (...). Besonders hat es Löwenthals Haus arg mitgenommen. Die Bertoldstraße sieht schrecklich aus, das Haus Himmelsbach (...) ist ganz zertrümmert, und es gab mehrere Tote.
Gebäude der Holzhandlung Gebrüder Himmelsbach,
Rempartstraße 16, am 14. April 1917 Das Theater ist von einer Seite vom Dach bis unten arg beschädigt. Ein dreistöckiges Haus in der Belfortstraße sieht auch furchtbar aus. Die Straße dort wurde weithin aufgerissen. In der Bismarckstraße sieht die Wirtschaft Krokodil ebenso aus. Das Antoniushaus [in der Kirchstraße in der Wiehre] ist ganz ausgebrannt, auch die Frauenklinik hat teilweise gelitten. Ein dreistöckiges Haus in der Kartäuserstraße ist auch vernichtet. Beim oberen und unteren Mez-Haus sind bis unten alle Scheiben wie ein Sieb. In der Runzstraße ist auch ein Haus arg beschädigt. In der Zähringerstraße soll es furchtbar sein. Dorthin bin ich aber noch nicht gekommen. (...) Jetzt weiß man nicht mehr, wo man hinflüchten soll. Bisher glaubte man immer, dass die Halunken es nur auf die innere Stadt absehen würden, allein sie haben uns anderes belehrt.
Es ist mir immer ein betrüblicher Anblick, wenn ich jetzt an unserem lieben Münster vorbei- und hineinkomme und sehen muss, dass man die kunstvollen Fenster eins nach dem anderen herausnimmt und sie durch gewöhnliche Fenster ersetzt. Da wird es einem ganz unheimlich – was wird man noch alles erleben?
Nachträglich fällt mir noch etwas ein, was mir zeitlebens im Gedächtnis bleiben wird: Unter dem Donner der Abwehrkanonen und unter Fliegergefahr sind die armen Erstkommunionkinder zur Kirche und aus der Kirche gerannt [Zimm14].
Verbreitung falscher Gerüchte in Freiburg
Spätestens zu Weihnachten 1914 wird auch den Freiburgern klar, dass der Krieg kein schnelles Ende finden wird. Statt Siegesmeldungen muss die Freiburger Zeitung melden: Von amtlicher Stelle wird uns geschrieben: Das in der Stadt verbreitete Gerücht von einem Durchbruch der Franzosen entbehrt jeder Begründung. Es wird vor der Verbreitung solch unsinniger Gerüchte ernstlich gewarnt. Doch immer wenn der Geschützdonner von der nahen Front in den Vogesen in Freiburg lauter zu werden scheint, machen neue Gerüchte über eine Invasion der Franzosen die Runde.
Zum Jahreswechsel 1914/15 berichtet die Freiburger Zeitung in ihrer Ausgabe vom 28. Dezember: Das Christfest feierten wir Freiburger unter dem Donner der Geschütze, der aus den Kämpfen im Oberelsaß dumpf herüberdröhnte zu unserer im Weihnachtsfrieden liegenden Stadt, den Ernst der Zeit, die Heiligkeit der Stunde eindringlicher denn je verkündend und wie ein mächtiger Schatten den strahlenden Lichterglanz des Christbaumes dämpfend.
Die Weihnachtsfeiertage sind hier dem Ernst der Zeit entsprechend sehr ruhig verlaufen. Die üblichen Weihnachtsfeiern der Vereine fielen in diesem Jahr fast ganz aus. Dagegen gedachte man in den Lazaretten in besonderer Weise des Christfestes. Von den Lazarettvorständen wurden Ansprachen gehalten, gesangliche Vorträge erfreuten die Kranken, die mit nützlichen Dingen (warmer Wäsche, Gebrauchsgegenstände, Erinnerungen usw.) beschenkt wurden. Die Bevölkerung benutzte das ziemlich gute Wetter zu Spaziergängen auf den Schloßberg und in die nähere Umgebung der Stadt [Serg14].
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Die 7-K des Nationalen Frauendienstes |
Aushalten - Haushalten - Maulhalten
Bald nach Kriegsausbruch zeigen sich in Freiburg an der Heimatfront wie überall im Reich bei der Versorgung der Bevölkerung die ersten Mängel. Die nach und nach ausgegebenen Lebensmittelkarten und Bezugscheine für den Bedarf des täglichen Lebens, wie etwa Schuhe, sind häufig ihr Papier nicht wert.
Collage aus Freiburger Lebensmittelkarten und Bezugscheinen der
Mit der Verknappung von Mehl wird das Brot durch Kartoffelstärke gestreckt, und als auch die Erdäpfel rar werden, finden sich weitere Zusätze im Kriegsbrot wie Kleie, Mais, Gerste, Linsen und sogar Sägemehl. Neben dem K-Brot gibt es zu Hause statt der früheren wilhelminischen 3-K*: Kinder, Küche, Kirche nun die nebenstehenden 7-K des Nationalen Frauendienstes für Krieg und Küche.
Zynismus pur: Die so raren Nahrungsmittel werden auch noch teurer!
*Wilhelm zwo hatte den Frauenrechtlerinnen verkündet: Die Hauptaufgabe der Frau liegt nicht im Erreichen der vermeintlichen Rechte, in denen sie es dem Manne gleichtun könnte, sondern in der stillen Arbeit zuhause und in der Familie.
Statt fehlender Kartoffeln gibt es Steckrüben, die als ein in Freiburg unbekanntes Nahrungsmittel aus Norddeutschland importiert werden.
Miniration 1917 [Chic07]
Als auch diese zur Ernährung nicht ausreichen, greift man auf Runkelrüben zurück und nimmt somit den wenigen noch verbliebenen Nutztieren das Futter. Der Geschmack beider Arten ist für die Freiburger stark gewöhnungsbedürftig. Aus dem Steckrübenwinter 1916/17 ist folgendes Gedichtchen überliefert:
Die Rüben, ach, die Rüben
Schließlich greift Hunger um sich. Im Dezember 1918 errechnet das Reichsgesundheitsamt
Traueranzeige 1917
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Max von Baden
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Barfuß gehn wird jetzt Gebot
Ein bestehender Mangel reißt einen weiteren an anderer Stelle auf. Als im Sommer 1916 alle Fahrradbereifungen abgeliefert werden müssen, fallen in Freiburg 10 000 Fahrräder für den Transport plötzlich aus. Nun ist Straßenbahn fahren (mit 10 Pfennig vielen zu teuer) und zu Fuß gehen angesagt. Obgleich die Elektrizität für die Tram durch Wasserkraft erzeugt wird und die Stromversorgung nicht auf die knappe Kohle angewiesen ist, können die Städtischen Verkehrsbetriebe dem vermehrten Fahrgastaufkommen kaum nachkommen. Zwar hatte man, um die eingezogenen Männer zu ersetzen, rechtzeitig Frauen zu Fahrern und Schaffnern ausgebildet, doch das rollende Material wird langsam rar. Straßenbahnen dienen in Ermangelung von Pferden und Kraftwagen auch zum Transport von Verwundeten zu den Lazaretten und von Grundnahrungsmitteln in die städtischen Lager. Mit den wenigen verbliebenen Mechanikern und wegen fehlender Ersatzteile können die Triebwagen nicht ausreichend gewartet werden und so dünnt der verbleibende Fahrzeugpark langsam aus. Längst hatte man auch die Bronzestandbilder an der Kaiserbrücke eingeschmolzen und die Studentenverbindungen opfern mit rund 800 kg Zinn ihre Bierkrugdeckel [Chic07].
Ganz Baden bläst ums Geld
Auch die Fortbewegung auf Schusters Rappen statt Straßenbahn wird zunehmend beschwerlich, denn Leder gehört zu den Rohstoffen, die schon bei Kriegsbeginn für zivile Zwecke nicht mehr zur Verfügung stehen. Als Obermaterial findet Segeltuch Verwendung und im April 1918 trägt die Mehrheit der Freiburger Einheitsschuhe aus Stoff mit Holzsohlen. Im folgenden Sommer tönt dann das Marschlied der Barfüßler:
Barfuß gehn wird jetzt Gebot Und sogar für die Erwachsenen gilt:
Jeder gehe stolz von heut'
Gott mit uns
Für die beiden großen Kirchen ist der Krieg gegen Frankreich, ein Land in dem nach deutscher Ansicht Moral und Religion im Niedergang begriffen sind, gerecht. Gott strafe Frankreich, aber warum muss das deutsche Volk so viel leiden.
Schon Kaiser
Konstantin wusste: In hoc signo vinces
Im seinem Hirtenbrief zur Fastenzeit 1916 versucht Erzbischof Thomas Nörber, darauf eine Antwort zu geben: Diese schwere Heimsuchung dient einzig unserer Erlösung ... wir dürfen nur auf ein Ende unserer Prüfungen hoffen, wenn wir wieder ein Volk voll lebendigen Glaubens und kindlicher Gottesfurcht geworden sind.
Besonders die evangelische Kirche gibt sich patriotisch, wenn der Pfarrer der Christuskirche predigt: Sollte unter uns ein Mann sein, der nicht bereit ist, seinen letzten Blutstropfen für das Vaterland zu vergießen, so rufe ich ihm im Namen Gottes zu: du bist kein Deutscher, du bist kein Christ. Verlass diese Kirche! [Chic07].
Luther wir brauchen dich
Zum 400-jährigen Reformationsjubiläum am 31. Oktober 1917 lässt der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss von den Kanzeln verlesen: Wie unsere Väter im Glauben sich des Heldenmuts der Reformatoren, so wollen auch wir der dahingerafften Blüte unserer Söhne und Brüder uns wert erzeigen und bekennen: Eine feste Burg ist unser Gott, das Reich muss uns doch bleiben [Nach17].
Den Vogel schießt jedoch der Rektor der Universität Marburg Wilhelm Heitmüller ab, wenn er 1917 feststellt: Ein Kind des Volkes, umwittert vom Erdgeruch heimatlichen Bodens, wie die deutsche Eiche knorrig und rissig, kantig wie Fels. schwerblütig und schwersinnig, maßlos und leidenschaftlich, ja wohl, trotzig und eigensinnig, grob und herb, aber durch und durch wahrhaft und ehrlich. harmlos und naiv bis zur Arglosigkeit und Unklugheit, und zugleich von wundervoller Freiheit des Empfindens, von unergründlicher Tiefe des Gemüts, die für den welschen Mann unbehaglich aus den tiefen Augen leuchtete, von sonnigem und zugleich grimmigen Humor - diese an Gegensätze reiche, verschwenderisch ausgestattete Natur zur Persönlichkeit gestaltet durch einen kindlichen, bergeversetzenden Glauben und durch unbedingt sittliches Empfinden: so wurde Luther der furchtlose, unbeugsame, titanenhafte Mann, wie er in unserer Vorstellung lebt, der Mann, der einen Jahrhunderte alten mächtigen Bau in seinen Grundvesten (!) erschütterte, der Mann. der am Elstertor in Wittenberg die Bannbulle verbrannte und trotzig die erste Macht der Welt herauszufordern wagte, der Mann, der in Worms gegenüber Papst, Kaiser und Reich allein sich auf sein Gewissen stellte, - der deutsche Mann gegen eine Welt von Feinden, - wie heute der deutsche Mann: Luther wir brauchen dich [Ober18].
Der Jubiläumsslogan der evangelischen Kirche lautet: Mit Gott durch Kampf zum Sieg.
Verstehen wird das große Leiden vielleicht ein kommendes Geschlecht
Der Freiburger Althistoriker Ernst Fabricius gewinnt dem Krieg positive Seiten ab: Er beseitigt alle politischen, konfessionellen und sozialen Schranken und macht die Menschen loyal und frei.
Dagegen fragt die sozialistische Zeitung Volkswacht: Wer leidet am meisten? Der verarmte Arbeiter! Wo soll er seine Arbeitskraft herholen? Die besseren Kreise reservieren alle teuren Nahrungsmittel für sich. Als ein Angestellter des Bezugsamts einer hungrigen Frau die Lebensmittelkarte verweigert, gibt er ihr den zynischen Rat: Machen Sie einfach die Augen zu und ihr Magen wird denken, es ist Nacht [Chic07].
Braunes Plakat mit einem Spruch fast wie Deutschland erwache!
In dieser verzweifelten Situation gründet sich 1917 die rechtsradikale DVLP, verkündet unter ihren 1. Vorsitzenden Admiral von Tirpitz den Siegfrieden, will den Reichstag, die Arbeiterbewegung und die Linksparteien ausschalten, während ihr 2. Vorsitzender Wolfgang Kapp sogar erwägt, mit einem Putsch den zu laschen Wilhelm II. durch den schneidigeren Kronprinzen Wilhelm von Preußen zu ersetzen. Seinen Putsch hat Kapp dann später nachgeholt.
Wenn auch die Menschen hinter der Front hungern und frieren, so ist dies nicht vergleichbar mit dem Verrecken der Soldaten im Schlamm der Schützengräben an der Westfront und dem Leiden der täglich am Bahnhof eintreffenden und häufig für ihr zukünftiges Leben schwer gezeichneten Verwundeten. Da viele von ihnen unter den sich verschlechternden hygienischen Verhältnissen in den Lazaretten nicht überleben, kommt es in Freiburg zu all dem Mangel bald auch zu einer Verknappung von Grabstätten.
Bei fast der Hälfte der Gefallenen gibt das Oberkommando an Todesursache unbekannt, euphemistisch für die Tatsache, dass viele Leichen bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind [Chic07]. Dass Körper und abgetrennte Gliedmaßen sich nicht mehr identifizieren lassen, begründet den Mythos vom unbekannten Soldaten, für den später an vielen Orten Denkmäler errichtet werden, nährt aber auch die Listen der Vermissten, letzte Hoffnung für so manche Eltern, Frauen und Kinder. Auf der anderen Seite nimmt eine abgestumpfte Bevölkerung die immer wiederkehrenden Worte vom Heldentod für das Vaterland in den Todesanzeigen der Zeitungen bald nicht mehr wahr. In der sozialdemokratischen Zeitung Volkswacht erscheint folgendes Gedicht:
Kein Menschensinn mag unterscheiden
Durchhalten!
Wie schon früher in Freiburgs Geschichte kündigt ein Komet im April 1917 weiteres Unheil an: Amerika tritt in den Krieg ein. Jetzt zirkulieren Flugblätter mit Titeln wie: Auf zum Endkampf und Deutsches Volk wach auf aber nur so lange, bis die Freiburger Glockenspende im Juli den Zusammenbruch einläutet.
Glockenabschied Wie würd's is no menggmol (häufig) schmerze
Die Frühjahrsoffensive 1918 weckt noch einmal neue Hoffnung auf einen Siegfrieden. Die Frau des Freiburger Philosophen Edmund Husserl vertraut ihrem Tagebuch an: Papa ist außer sich. Er ist überzeugt, daß der Endsieg nun zu Greifen nahe ist. Doch in August schreibt Husserl an Heidegger: Die letzen Ereignisse an der Front lasten schwer auf unserer Seele. Ich muss es Ihnen nicht erzählen. Im Oktober sucht dann die Spanische Grippe die unterernährte Bevölkerung und die Verwundeten in den Lazaretten heim. An der Epidemie sterben in Freiburg 444 Menschen [Chic07].
Wann müssen wir zu einem Ende kommen?
Die oberste Heeresleitung (OHL): Hindenburg, Kaiser Wilhelm II. und Ludendorff Auch Paul von Hindenburg beschreibt in seinen Erinnerungen die Agonie des Zweiten Reiches. Mit seiner Durchhalteparole gibt er nicht nur die deutsche Marschrichtung für das Ende des Ersten Weltkriegs vor, sondern seine Aufforderung wird siebenundzwanzig Jahre später auch den Nazi-Machthabern ebenfalls unter Berufung auf Friederich den Großen zum grausamen Vorbild: Offiziere wie Mannschaften begannen wohl zu ermatten, aber sie rissen sich immer wieder empor, wenn es galt, den feindlichen Anstürmen Halt zu gebieten. Offiziere aller Dienstgrade bis zu den höheren Stäben hinauf wurden Mitkämpfer in den vordersten Linien, teilweise mit dem Gewehr in der Hand. Zu befehlen gab es ja vielfach nichts anderes mehr als: „Aushalten bis zum Äußersten.“
Auch im Ersten Weltkrieg muss der Alte Fritz herhalten, um den Durchhaltewillen der Menschen zu stärken.
Ja: „Aushalten!“ Welch eine Entsagung nach so vielen ruhmreichen Tagen glänzender Erfolge ... Wir haben keine neue Kraft mehr einzusetzen wie der Feind. Statt eines frischen Amerikas haben wir nur ermattete Bundesgenossen, und auch diese stehen hart vor dem Zusammenbruch.
Wie lange wird unsere Front diese ungeheure Belastung noch zu tragen vermögen? Ich stehe vor der Frage, vor der schwersten aller Fragen: „Wann müssen wir zu einem Ende kommen?“ Wendet man sich in solchen Fällen an die große Lehrmeisterin der Menschheit, an die Geschichte, so ermahnt sie nicht zur Vorsicht, sondern zur Kühnheit. Richte ich meine Blicke auf die Gestalt unseres größten Königs, so erhalte ich die Antwort: „Durchhalten!
Gewiß, die Zeiten sind anders geworden, als sie es fast 160 Jahre früher waren. Nicht ein geworbenes Heer, sondern das ganze Volk führt den Krieg, ist in ihn hineingerissen, blutet und leidet. Aber die Menschheit ist im Grunde genommen die gleiche geblieben mit ihren Stärken und Schwächen. Und wehe dem, der vorzeitig schwach wird. Alles vermag ich zu verantworten, dieses niemals! [Hind20].
Als am 29. September 1918 die Oberste Heeresleitung (OHL) von der Reichsregierung einen sofortigen Waffenstillstand fordert, hat der Kaiser die Schuldigen schon ausgemacht: Der Krieg ist zu Ende, freilich ganz anders, als wir uns das gedacht … Unsere Politiker haben erbärmlich versagt [Sont11]. In dieser Situation bietet Reichskanzler Hertling am 30. September seinen Rücktritt an.
Ich will die Revolution nicht
Widerwillig ernennt Kaiser Wilhelm am 3. Oktober seinen Vetter, den Neffen Großherzogs Friedrichs II., den Erbprinzen Max von Baden, (Bademax) zum Reichskanzler. Der schickt am folgenden Tag ein Waffenstillstandsgesuch an den amerikanischen Präsidenten auf der Basis der 14 Punkte, die Woodrow Wilson am 8, Januar in einer Rede im Kongress formuliert hatte.
In seiner Antwortnote vom 23. Oktober bezweifelt Wilson, dass sich Deutschland durch eine Aufnahme der Sozialdemokraten in die Regierung Max von Badens demokratisiert hat. Nach Ansicht der amerikanischen Regierung herrschen im Deutschen Reich immer noch die gleichen, nicht demokratisch gewählten Kräfte, mit denen man nicht verhandeln will.
Auch der Badener Sozialdemokrat Friedrich Ebert drängt auf eine grundlegende Regierungsreform im Reich, fürchtet er doch eine Revolution, sollte der Kaiser nicht abdanken: Ich will sie nicht, ja ich hasse sie wie die Sünde [Sont11].
Wegen der negativen Antwort Wilsons schwenkt Ludendorff militärisch wieder auf einen harten Kurs ein, worin er von Kaiser und Kronprinz unterstützt wird, während Reichsregierung und gemäßigte Militärs einen Waffenstillstand diskutieren. Schließlich erreicht Max von Baden am 26. Oktober die Entlassung Ludendorffs, der durch General Wilhelm Gröner ersetzt wird.
Ende Oktober verlässt der Kaiser Berlin und begibt sich ins Hauptquartier im belgische Spa. Von dort aus schickt er am 4. November den Offizieren an der Front seine besten Wünsche und Durchhalteparolen, obgleich die Verteidigungslinien überall zurückweichen und zudem der österreichische Kaiser am 3. November einen Waffenstillstand mit den Alliierten abschlossen hat.
Lieb Vaterland, magst ruhig sein – die Flotte schläft im Hafen ein
Dieses an der Heimatfront gesungene Spottlied geht der Seekriegsleitung, seitdem des Kaisers Stolz, die deutsche Hochseeflotte, nach der blutigen Skagerrak-Schlacht Anfang Juni 2016 in Wilhelmshaven und Kiel untätig vor Anker liegt, schon seit langem auf die Nerven. Auch Offiziere und Mannschaften sind genervt, wobei die Befehlshabenden ihren Frust an ihren Untergebenden mit monotonem Drill und unnötigen Schikanen auslassen. Während die Marineoffiziere auch im vierten Kriegsjahr mit gutem Essen komfortabel leben, isst das der auf engstem Raum hausenden Mannschaften dürftig. Während ein Matrose bereits 1915 bemerkt: Alles ist sich darüber einig, dass nach dem Kriege die Bevorzugung der Offizierskaste aufhören muss [Zimm18], macht sich diese gegen Ende des Krieges Sorgen, die Flotte könnte bei einem Waffenstillstand den Briten ausgeliefert werden.
Der Stabschef der Seekriegsleitung, Adolf von Trotha, notiert in einem Brief am 8. Oktober 1818: Es liegt auf der Hand, dass uns ein Schrecken der Scham erfasst bei dem Gedanken, die Flotte könne, ohne zum Schlagen gekommen zu sein, der inneren Vernichtung überliefert werden. Der Einsatz, um mit Ehren unterzugehen, lohnt doch auch noch, denn eine schwere Wunde würden wir England schon noch beibringen [Zimm18].
Anfang 1818 besucht Wilhelm II. die Kieler Werftarbeiter, um den Männern, die Material für den Krieg liefern, zu danken Foto: (©Haeckel Archiv / ullstein bild)
In der Tat schmieden die Admiräle Franz von Hipper und Reinhard Scheer ohne Kenntnis der OHL Pläne, die kaiserliche Flotte für einen letzten Kampf gegen die Royal Navy in die südliche Nordsee zu entsenden. Admiral von Hipper schreibt: Was einen Kampf um die Ehre der Flotte in diesem Krieg betrifft, so wäre es, auch wenn es ein Todeskampf wäre, die Grundlage für eine neue deutsche Flotte.... eine solche Flotte wäre im Falle eines unehrenhaften Friedens nicht in Frage gekommen [Zimm18].
So ergeht am 24. Oktober 1918 geheime Order, die Flotte am 29. Oktober aus Wilhelmshaven auslaufen zu lassen. Dabei sollen die Mannschaften erst auf hoher See über das Himmelfahrtskommando informiert werden. Als sie große Mengen scharfer Munition, doch Proviant nur für zwei Tage bunkern sollen, bleiben die Pläne den Matrosen nicht lange verborgen. Da löschen in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober die Heizer die Feuer unter den Dampfkesseln, doch schon am nächsten Tag geben die Meuterer auf und werden verhaftet.
Unter diesen Umständen bläst von Trotha den Angriff ab und lässt stattdessen fünf Großkampfschiffe mit etwa 6000 Seeleuten und einem Teil der Inhaftierten durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal nach Kiel dampfen, wo sie am 1. November eintreffen. Ein fataler Fehler, denn nun breitet sich der Virus der Meuterei auch in Kiel aus. Bereits am selben Abend treffen sich 250 Matrosen mit Vertretern der sozialdemokratischen Parteien - der gemäßigten MSDAP und der sozialistischen USPD - und fordern die Freilassung ihrer inhaftierten Kameraden.
Nach weiteren Verhaftungen und Straßensperren am 3. November läuft der Aufstand dem lokalen Flottenkommando völlig aus dem Ruder, als Werft- und Fabrikarbeiterin in den Streik treten und sich mit den meuternden Matrosen solidarisieren. Als bei einem Demonstrationszug kaisertreue Militäreinheiten von der Waffe Gebrauch machen, sterben sieben Demonstranten; viele werden verletzt. Der Großteil der Truppen weigert sich jedoch, auf Demonstranten zu schießen und schließt sich ihnen an. Gustav Böhm, Adjutant im preußischen Kriegsministerium, schreibt in seinen Erinnerungen über jenen Tag: Aus Kiel kommen schlechte Nachrichten. 2000 Matrosen sollen gemeutert und zwei Kompanien Marineinfanterie sollen sich ihnen angeschlossen haben. Um 13.45 Uhr meldet Stadtkommandant Wilhelm Heine, der einen Tag später erschossen wird: Die militärischen Machtmittel zur Unterdrückung der Meuterei sind erschöpft, es stehen keine sicheren Truppen mehr zum Einsatz zur Verfügung.
Gouverneur Souchon kann nichts mehr tun, er muss verhandeln – und lässt die Revolutionäre gewähren, als er anordnet, dass kein Widerstand geleistet werden solle. Über Souchons Resignation schreibt Oberleutnant Otto von Trotta genannt Treyden in seinem Tagebuch: Wir waren außer uns vor Entsetzen über diesen schlappen, schmachvollen Befehl. Gleichzeitig erfuhren wir auch, dass Verhandlungen zwischen dem Gouvernement und den Rebellen im Gange wären und schon fast alle Bedingungen der Aufrührer von dem Gouvernement gebilligt seien (Fortfall der Grußpflicht, Anerkennung des Soldatenrates, Freilassung von Gefangenen, gleiche Verpflegung der Offiziere und Mannschaften), das ist ja alles entsetzlich und von unabsehbaren Folgen für Marine und Armee [Zimm18].
Folgen nicht nur für Marine und Armee. Am 5. November morgens wird auf allen Schiffen die rote Flagge der Revolutionäre gehisst – es bilden sich ein Soldaten- und ein Arbeiterrat, dem die zivile Verwaltung der Stadt unterstellt wird. Offiziere bekommen ihre Abzeichen abgenommen und werden teilweise verhaftet.
Die
Regierung in Berlin versucht, die Lage zu entschärfen. Der
sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete
Gustav
Noske reist nach Kiel. Arbeiter und Soldaten begrüßen den SPD-Mann und
wählen ihn am 5. November zum Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates
von Kiel. Noske bekommt von Souchon ein Amnestieversprechen, usurpiert
anschließend den Gouverneursposten und schickt die Matrosen zur Beruhigung
der Lage in den Urlaub. Sie tragen den Protest in andere Städte des Reiches.
Sochons Adjutant Böhm notiert am 8. November resigniert: Meines Erachtens kann die Heimat der revolutionären Bewegung mit bewaffneter Hand aus eigener Kraft nicht mehr Herr werden [Zimm18]. Da hatten sich Matrosen und Marinesoldaten schon längst auf den Weg nach Berlin gemacht.
Bewaffnete Matrosen und Marinesoldaten fahren durch das Brandenburger Tor
Die Antwort mit Maschinengewehren auf das Pflaster schreiben
Nachdem sich so die militärische und die innenpolitische Lage gefährlich zugespitzt hatte, drängt Max von Baden den Kaiser am 8. November mit einer schriftlichen Erklärung zum Thronverzicht. Doch Wilhelm denkt nicht daran abzudanken und droht den Berlinern die Antwort mit Maschinengewehren auf das Pflaster zu schreiben, und wenn ich mir mein Schloss zerschieße, aber Ordnung soll sein. Ich weigere mich, wegen der paar Juden und der tausend Arbeiter den Thron zu verlassen und Ein Nachfolger Friedrichs des Großen dankt nicht ab [Sont11].
Die Menschen suchen nach Sündenböcken für die nicht mehr aufzuhaltende Niederlage, so auch der Kaiser Wie so häufig in der Geschichte müssen die Juden herhalten. In Freiburg raunt man sich zu: Der Krieg hört erst auf, wenn die Juden alle Säcke voll haben [Schw21].
Am Morgen des 9. November will man es in Berlin aber endlich wissen. Von 9 Uhr ab Gespräch mit Spa. Man verhandelt über die Abdankung. Direkte Verbindung war mit dem [Großen] Hauptquartier hergestellt. Große Nervosität. Max kam nur einige Male während des Gespräches in das Zimmer, in dem telefoniert wurde. Irgendeiner (. . .) reckt die Faust gen Himmel und stöhnt: Oh wenn das Schwein nur endlich ginge. Die Nervosität wird zur Siedehitze. (. . .) Auf einmal heißt’s: Er hat abgedankt [Rüsk18a].
Inzwischen ist es 11 Uhr in der Reichskanzlei. Als Max von Baden nach einer halben Stunde keine schriftliche Erklärung aus Spa vorliegt, unterzeichnet er unter dem Drängen Eberts eigenmächtig die nebenstehende Verzichtserklärung des Kaisers:
Veröffentlichung der Verzichterklärung des Kaisers
Kurz nach 12 übergibt
In Spa erklärt sich Wilhelm schließlich gegen 14 Uhr bereit, als Kaiser abzudanken, doch den preußischen Königstitel möchte er bitte schön behalten. Aus Berlin erfährt er dann fernmündlich, dass alles zu spät ist.
Plötzlich geht alles sehr schnell. Bereits am 9. November abends wird der Hohenzollern doppelte Entsagung amtlich verkündet:
Am 10. November überschreitet Kaiser Wilhelm von Spa kommend die Grenze zu den Niederlanden und erhält dort Asyl.
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